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der Maestro

Der Maestro ist ein Typ, aus dem man im Allgemeinen nicht schlau wird! Für die Stadt, in der er lebt, gilt im Wesentlichen dasselbe! Aber vielleicht ist das ja der Grund, weshalb ich diese Town so interessant finde…
Aber eins kann ich euch sagen: Nachdem ich den Guasmo gesehen und die Geschichte erlebt habe, die ich euch gleich erzählen werde… Ich glaub, das war mit Abstand das Abgefahrenste, was man irgendwo erleben kann! Und ich hab’s mitgekriegt! Ich denke, ich kann eines Tages mit ´m Lächeln im Gesicht den Löffel abgeben, ohne das Gefühl zu haben, dass mich der Liebe Gott behumst hat… Also, die Geschichte, die ich jetzt erzählen will, hat sich im 21. Jahrhundert abgespielt, etwa zu der Zeit, als wir Zoff mit Atomkraft und Erderwaehrmung hatten! Ich erwähn das bloß, weil’s manchmal auch `n Mann gibt, ich würd nicht sagen, `n Held, denn was is schon `n Held?! Aber manchmal, da gibt’s einen Mann, und ich rede hier von dem Maestro, also manchmal, da gibt’s einen Mann, das ist der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit… Der passt genau da hin! Und so einer ist der Maestro! In Guaysquil, Guasmo-Sur… Und das, obwohl er ein total alter Mann ist! Das war der Maestro, ohne Frage… Vielleicht sogar der aelteste Mann in ganz Guayaquil und Umgebung! Womit er unter den alten Maennern weltweit einen der vordersten Plätze belegen würde! Aber manchmal, da gibt es einen Mann… Manchmal, da gibt es einen Mann…

der gehoert einfach genau dahin; und so einer ist Pepe, der Maestro.

Pepe heisst mit vollem Namen eigentlich José Enrique, ist ca. 1,60 m gross, etwa 80 Jahre alt und mein „Barbier“.

Betritt man Pepes „Peluqueria“, dann faellt eines auf: Nichts stimmt, aber alles ist in sich stimmig: Das Gelb der Waende ist bereits verblasst, der Spiegel hat einen Sprung, an der Decke sind Spinnenweben, die blaue Farbe blaettert vom alten Schreibtisch ab und die Polster des Stuhls sind aufgeplatzt. Dieser Ort hat einen perfektionierten Charme und eine Atmosphaere, die man sofort Mittel- oder Suedamerika zuordnen wuerde.

Wenn ich mich auf Pepes Stuhl setze, dann muss ich etwas runterrutschen, weil die Nackenlehne nicht hoehenverstellbar ist; und ich bin einfach zu gross. Pepe legt mir ein altes Handtuch um den Oberkoerper und geht bedaechtig zum alten blauen Schreibtisch, der unter dem Spiegel steht. Anders als man vermuten wuerde gleitet die linke Schublade auf und Pepe holt das Rasiermesser und 2 Rasierklingen der Marke Gillette hervor.
(Pepe weiss, wieviele Klingen er braucht und er wird Recht behalten.)
Dann wundert sich der unerfahrene Besucher, denn der Maestro beginnt konzentriert Zeitungseiten zu zerreissen – mit diesen Quadraten wird er spaeter die Klinge reinigen. In die Schale mit dem blauen Klumpen wird Wasser gegossen und dieses Gemisch dann sorgfaeltig mit einem Rasierpinsel verruehrt.

Nun ist Pepe schon alt und kann seine Haende nicht mehr ruhig halten, um ehrlich zu sein: er zittert ganz furchtbar, so dass es jeder mit der Angst bekommt, wenn sich der alte Mann mit der Klinge seinem Hals naehert.
Waehrend die linke Hand meinen Kopf haelt, merke ich das Zittern ganz besonders. Fuer den Bruchteil einer Sekunde hoert die rechte Hand allerdings auf zu zittern und rasiert die gewollte Stelle mit (gerade nicht) „toedlicher“ Praezision auf den Millimeter genau.

Pepes Augen, oder besser die Pupillen, sind merkwuerdig grau; es macht den Eindruck, als wenn sein Augenlicht altersbedingt etwas … nun ja… „gedimmt“ sei. Allerdings strahlt aus diesem Grau die Erfahrung von jahrzehntelangem Haareschneiden und Rasieren.

Zunaechst kommt die Grobrasur; mit der ersten Klinge wird der Bart entfernt. Die Klinge wird gewaechselt und der Schnurbart ist dran. Dann folgt die Feinarbeit: Pepe rasiert jeden Centimeter der Haut mehrfach und ueberprueft danach mit der Handflaeche, ob auch alle Haare entfernt worden sind. Bei seiner Arbeit summt Pepe leise, wie es auch sonst nur die grossen Meister tun, etwa Glenn Gould oder Pablo Casals. Diese Phase der Feinrasur braucht seine Zeit, da der Meister seine Arbeit sehr genau nimmt; und: er hat Zeit. Penibel werden Hals, Kinn, Oberlippen-, Hals- und Unterkieferpartie rasiert und immer wieder mit der Handflaeche ueberprueft.

In dem Friseurstuhl von Pepe bleibt die Zeit stehen: Draussen rasen die Autos vorbei, die Leute reden auf der Strasse und die Sonne brennt. Im Geschaeft summt ein Mann vor sich hin und rasiert und prueft nach und rasiert und prueft nach und …

Pepe steht fast immer an meiner rechten Seite. Am Ende geht er – wie so oft – einmal um mich rum, um an die linke Seite des Schreibtisches zu gelangen. Er giesst etwas von der Fluessigkeit aus der blauen, zylinderfoermigen Glasflasche in seine Haende und verreibt diese darin. Danach geht er hinter den Friseurstuhl und tupft den puren Alkohol in mein Gesicht. Ich spuere den Schmerz, die Haut brennt. Nach 2 Sekunden verfliegt der Schmerz wieder, wenn Pepe mir mit dem alten Handtuch Luft zufaechelt.

Die Rasuer ist vorbei. Wie lange sie gedauert hat? – Das kann keiner sagen. Vielleicht eine Ewigkeit, aber auf alle Faelle nicht laenger oder kuerzer, als Pepe fuer eine perfekte Rasur benoetigt.
Ueberfluessig erscheint die Bemerkung, dass waehrend dieser Zeit natuerlich kein Tropfen Blut geflossen ist.

Ich bezahle die 1,50 $, bedanke und verabschiede mich mit der Sicherheit, dass ich wiederkommen werde.

Pepe – der Maestro. Ich verneige mich.

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