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Ein typischer ecuadorianischer Abend

Oder warum Torten süß und nicht salzig sind

Samstagabend.
Um 7 Uhr gibt es Essen, hieß es vorher. Ich habe mich beeilt, aber meine Fähigkeit, mich an die ecuadorianische Unpünktlichkeit anzupassen, hat mal wieder gesiegt. Um halb 8 komme ich am Haus meiner Großeltern an. ‚Huch, es ist ja schon halb 8‘, ruft jemand durch das Haus.
Ach, mal wieder ein herrlicher ecuadorianischer Abend, denke ich, als ich durch die Tür ins Haus schreite.
Sind schon da alle? Pustekuchen. Die restlichen Familienmitglieder trudeln langsam innerhalb der nächsten Stunde ein. Warten. Und dann irgendwann?
20:45. Die ganze Familie ist beisammen. Nicht ungewöhnlich, sondern Standard hier. Daran sollte man sich ein Beispiel nehmen. In Deutschland dauert es ja schon ein halbes Jahrhundert, bis alle aus ihren Zimmern zum Essen kommen.
Also, jetzt sind alle da. Der Geburtstag einer Tante. Hipp Hipp Hurra.
Das Essen ist natürlich wie immer zu spät, die Lasagne war noch im Ofen und bis die ganze Familie zusammen war, hat es auch ge… Warte, was?! Es gibt Lasagne. Lasagne? In Ecuador? Ich kann meinen Ohren nicht trauen, so viel Abwechslung hatte ich schon lange nicht. Ich kann das Essen kaum erwarten. Sicher, dass es Lasagne gibt? Vielleicht ist das ein anderes Wort für Reis oder so? Hoffnungen bewahren.
Der Ventilator an der Decke brummt, der Fernseher läuft und nebenbei piepst seit zwei Stunden das gleiche Lied aus der verdammten Lichterkette, die provisorisch über die vorm Fernseher aufgebaute Weihnachtskrippe gelegt wurde.
Dazu blinken bunte Lichter. Wir haben den 9. Januar. Ich bräuchte jetzt nun wirklich keine Weihnachtslieder mehr, aber egal.
Ignorieren.
Es gibt dann auch tatsächlich Lasagne. Aber halt stopp, eins darf nicht fehlen! Reis. Ohne Reis geht’s dann halt doch nicht. Okay, ich freue mich, Lasagne mit Reis ist ja schließlich besser als Reis mit Reis.
Dazu gibt’s gelbe Fanta – „Cola“, wie sie es hier nennen. Die gibt’s immer an Geburtstagen. Leute, ihr lebt im Land der tropischen Früchte, mit einer daraus resultierenden unendlichen Vielfalt an Getränken und Saftkombinationen. Und es gibt nur…Zuckerwasser?
21.00 Die ganze Familie isst. 8 Leute am Esstisch, der Rest drumherum gereiht, auf Stühlen oder sonst im Raum verteilt. Es wird schnell gegessen – es schmeckt schließlich und außerdem wird abgewechselt mit Hinsetzen. Wenn man Geburtstage mit durchschnittlich 20 Leuten feiert, muss man taktisch denken. Bzw. taktisch essen.
Das Essen ist vorbei.
Es wird gelacht, es wird geredet. Einige gehen nach draußen zum frische Luft schnappen, andere bleiben am Tisch sitzen. Der Fernseher läuft. Die Lichterkette piepst. Der Ventilator brummt.
21.35. Torte! Die Kerzen müssen noch reingesteckt werden, dann wird die Familie zusammengetrommelt. „Vengaaaan“, „kommt“! 20 Leute runden sich um den Tisch.
Handys werden rausgeholt, dieser epische Moment muss natürlich festgehalten werden. „Haaaappy Biiiird-daaay tooo youuu“ schallt in unglaublich süßem spanischen Akzent durch das Haus. Bird-day, ja, das wäre ja mal was. Heute feiern wir anscheinend mal wieder den Vogeltag. Das englische „Th“ muss gekonnt sein.
„Cumpleaños feliz“ folgt. Alle singen mit, alle sind begeistert.
Gesicht in die Torte! Traditionen müssen sein!
Danach wird die Torte geschnitten.
Schon mal puren Zucker gegessen? Jetzt ja. Geschmack? Überbewertet.
Warum sind Torten eigentlich immer so süß und nicht salzig? Warum schmecken sie nicht zum Beispiel nach Lasagne oder so?
Eigentlich laufen alle Geburtstage gleich ab. Dennoch ist es jedes Mal witzig anzusehen.
Nach der Torte sind die offiziellen Geburtstagsrituale abgeschlossen.
Ein Drittel der Familie verlagert sich vor den Fernseher. Es läuft ein schrecklich schöner alter asiatischer Film.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass den wirklich jemand gucken will, aber gut. Was läuft, wird geguckt. Genau nach dem Motto, was auf den Tisch kommt, wird gegessen.
21:50. Die kleinen Kinder laufen immer noch herum. Der Ventilator brummt. Der Fernseher summt. Die Lichterkette piepst lauthals. KANN DIE BITTE MAL JEMAND AUSSCHALTEN?
Warum sind Torten eigentlich immer so süß?, frage ich mich weiterhin.
Ich gehe nach draußen, kurze Abkühlung und Auszeit des ecuadorianischen Weihnachtsgepiepse. Ich werde sonst verrückt. Ich habe mich hier zwar an vieles gewöhnt, aber die Klänge und Kampfschreie des asiatischen Films gemischt mit diesem undefinierten Etwas, das ein Lied sein soll – das will ich mir nicht noch länger freiwillig reinziehen. Außerdem will ich nicht noch ein Stück Torte angeboten bekommen.
Trotzdem, irgendwie ist alles schrecklich schön. So selbstverständlich schrecklich schön. Alle sind beisammen, alle sind glücklich. Niemand ist genervt, niemand ärgert sich. Niemand fragt sich, warum die Torte mal wieder so süß war. Dafür bin ja schließlich ich verantwortlich. Auf diese tiefgründige Frage habe ich auch heute noch keine Antwort.
‚Was für Torten kannst du denn machen…?‘ wurde ich gefragt, also ich meinen Gedanken zum Geschmack der Torte äußerte. ‚Hmm!‘ meinte ich. ‚Ich brauch halt ein Rezept…‘. In einer Woche sei der nächste Geburtstag, da könne ich dann ja eine Torte backen. Ähm ja.
Ein Jammer, dass ich in dieser Zeit auf Reisen sein werde. Ich glaube kaum, dass ihnen meine Lasagne-Torte gefallen würde. Vielleicht ist es besser für alle Beteiligten, wenn ich keine Torte backe.
Aber ach Mensch, schade, dass ich den nächsten Geburtstag verpasse. Große Sorgen brauche ich mir jedoch nicht zu machen, bald wird es ihn wieder geben.
Einen typischen ecuadorianischen Abend eben.

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