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Megawatt statt Kugeln

Seit einer Woche bin ich nun im Guasmo, diesem unüberschaubar riesigen und lebendigen Stadtteil von Guayaquil, wo so viele großartige Leute zusammen leben, arbeiten und Musik machen. Ich bin von Havanna aus angereist, wo ich mein Auslandssemester verbracht habe, und gehe schon allen mit meinen Kuba-Ecuador-Vergleichen auf die Nerven. Dank der immensen Gastfreundschaft der Menschen hier habe ich mich von der ersten Minute an willkommen und wohl gefühlt. Mein Tag besteht aus drei bis vier GitarrenschülerInnen, drei Mal lecker Essen in meiner Familie, Percussion- und Salsa-Gruppen, spontanen Jam-Sessions. Danach spielen „Ekis“ und „Gringos“ zusammen auf der Straße Fußball, gehen joggen oder Biertrinken. Bauen Grenzen ab. Leben, lachen und streiten miteinander –  lernen voneinander. Aber da schon so viele über das Leben in und um die Clave de Sur geschrieben haben, will ich hier nur ein paar guasmische Impressionen mit euch teilen, die ich nicht vergessen werde.

Eins: Das Frühstück nach meiner Ankunft. Frittierte Yucca mit Käsefüllung, herrliches Essen. Leider legt unsere Nachbarin schon seit einer Stunde Bachata-Musik auf, sodass es die ganze Straße hört. Morgens um 9. Meiner Gastmutti reicht’s. Sie geht ins Schlafzimmer, kommt mit einer 6000W-Aktiv-Box zurück, stellt diese auf die Veranda und schießt mit Salsa zurück. In unserer Straße übertönen nun zwei Stars der Latin-Musik einander, es spielt sich das vielleicht epischste musikalische Battle des kontemporären Lateinamerikas ab: Prince Royce gegen Marc Anthony, „Darte un Beso“ versus „Vivir mi Vida“.

Mir ist’s recht. Denn vor zehn Jahren schoss man hier nicht mit Megawatt, sondern noch mit Kugeln. Im Viertel bekriegten sich die „Ñetas“ und die „Latin Kings“. Wenn eine Schießerei angekündigt war, verließ keiner das Haus, und die Banden rekrutierten Jugendliche für ihre Machenschaften um Macht, Geld und Drogen. Jetzt sind die Fronten versöhnt, man sieht mehr Polizeipatrouillen und keine Waffen mehr auf der Straße. Überall spielen Kinder und quatschen einen neugierig an. Fremde grüßen und winken. Völlig frei und allein bewegen sollte man sich als Gringo hier trotzdem nicht, vor allem bei Nacht kann es passieren, dass man ausgeraubt wird. Aber wer nächtliche Spaziergänge durch einsame Gassen meidet, der erlebt den Guasmo als materiell einfaches, aber freundliches, kinderreiches und aktives Viertel dieser riesigen Stadt.

Zwei: Das Konzert in der Grundschule. Letzter Schultag vor den Ferien, alle Grundschüler in der Aula. Schon beim Aufbauen der Anlage herrscht ein Stimmengewirr wie in einer Seevogelkolonie. Wir, die Freiwilligen, und John, der Koordinator, wollen drei Songs spielen, um die Musikschule zu promoten. Dafür haben wir extra die Titelmelodie einer in Ecuador bekannten Zeichentrickserie und  „Darte un Beso“ (!) einstudiert. Die Kids lieben uns. Nach drei spontanen Zugaben müssen wir ernsthaft Autogramme geben. Besonders Birte hat es mit ihrem blonden Engelshaar den Kindern angetan, sie hängen an ihr und bilden schließlich auf Anweisung des Lehrers eine Warteschlange, um ihr Autogramm abzuholen. John wird viel zu tun haben mit den Neuanmeldungen begeisterter Grundschüler. „Der schönste Tag in meinem Leben“, sagt er ergriffen.

Drei. Der Guasmo ist voller Musik. Manchmal mehr als einem lieb ist. Im Nachbarhaus meiner Gastfamilie ist eine evangelikale Kirche. Es ist 22:15 und gerade wird, wie jeden Abend, Gottesdienst gefeiert. Man merkt das an dem lauten und erstaunlich falschen Gesang, begleitet von einer jungen Frau, die scheinbar wahllos Akkorde auf ihr verstärktes Keyboard hämmert. Dazu ein billiger Schlagzeugbeat. Der ganze Block hört mit. Zwischen den Songs schreit jemand eine Predigt über Himmel und Hölle ins Mikrofon, oder es werden Wunder vollbracht: Teufelsaustreibungen, oder Heilungen von Krebs, geistigen Behinderungen oder Homosexualität. Heute sind die Gläubigen gnädig mit uns, denn die Messe endet. Nicht wie letzten Samstag, als Nachtwache war. Von 22 bis 5 Uhr, doppelt so laut wie heute. Die Polizei wird bestochen und die Nachbarn haben sich mit den schlaflosen Nächten abgefunden. „Die Lautstärke ist doch okay“, meinte da der Herr am Eingang nachts um halb 2, „cuando Cristo venga“, schrie die Gemeinde, „A-Moll, D-Moll, H-vermindert“, spielte die junge Dame, jenseits von Takt und Harmonie. Sie sollte Stunden in der „Clave de Sur“ nehmen.

Nur noch 4 Wochen bleiben mir hier im Guasmo. Ganz schön kurz, denn ich habe meinen ersten MoG-Einsatz zwischen zwei Semester geschoben. Aber ich kann ja wiederkommen, Musik machen, lehren, lernen, leben.

Grenzen suchen und versuchen sie abzubauen. Voll chévere.

Steffen

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